Geisel im Mittelalter
Etymologie
Germanische
Entsprechungen
Uralische Verwandte
Baltische Verwandte
Synonyme in anderen
Sprachen
Keltisch
Lateinisch
Griechisch
Slawisch
Sonstiges |
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Im Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 nötigten die deutschen Befehlshaber
angesehene Ortsbürger mit ihnen zu ziehen, um sich gegen Partisanenüberfälle zu schützen. Dafür griff man das bereits veraltete Wort
Geisel, franz. otage
auf.[1] Sicher hat man diese Methode auch in anderen Kriegen angewandt.
Das
moderne Verbrechen der Freiheitsberaubung im Frieden, um Ansprüche durchzusetzen (Geiselnahme),
wurde erst in den 1970er-Jahren üblich (erstmals wohl 1972 bei den
olympischen Spielen in München).[2]
Die
Geisel im Mittelalter war etwas ganz Anderes:
-
Sie haftete mit ihrer Freiheit für Schulden
und begab sich in
den Gewahrsam des Gläubigers, bis die Schuld bezahlt war. Dafür steht
lat. vas 'Bürge'. Ein Bürge aber haftete und
haftet heute noch nur mit seinem Vermögen. Die stellvertretende
Personhaftung scheint eine Eigenart des
germanischen Rechts gewesen zu sein. Alte deutsche Synonyme waren
Leibbürge, Leistbürge,
Pfandmann.[3]
Die Geisel musste an einem bestimmten Ort Einlager
halten, d.h. Quartier beziehen (mlat. obstagium).[4]
-
Sie haftete mit ihrem Leben für die Treue des Vertragspartners.
Im Kriegsfall mussten die Unterlegenen eine Anzahl Geiseln stellen. Dafür
steht lat.
obses 'kriegsgefangener
Friedensbürge'. Das war ein alter Brauch, der sich bis ins vorchristliche
1er-Jahrtausend zurückverfolgen lässt.
-
Das Mnd. unterscheidet
gîse 'militärischer' und gîsel
'ziviler Leibbürge'.
Germanische Entsprechungen
-
anord. gísl 'Geisel, Bürge;
Wächter (einer, der für Sicherheit sorgt)'
isl. gísl, dän. gidsel,
norw. gissel, schwed.
gisslan 'Geisel'
Die skandinavischen Varianten erwecken den Eindruck, als
seien sie wie im Dänischen aus *gid-sel
entstanden.
-
and. gîsal 'Geisel, Bürge',
mnd.
gîse 'Kriegsgeisel' und gîsel 'ziviler
Leibbürge'
-
mndl. g(h)îsel, ghîselair, ndl.
gijzelaar 'Geisel'
-
afries. jêsel
'Geisel'
-
aengl. gís(e)l
'Geisel'
Etymologie
Es gibt folgende ernst zu nehmende Erklärungsversuche:
-
Geisel 'Leibbürge' /
Geißel 'Peitsche'[5]
Die heutige Unterscheidung Geisel
/ Geißel ist künstlich. Sie wurde nötig,
weil altes langes /i/ zu /ei/ geworden war.
Es gibt sicher Gedankenverbindungen zwischen Geisel
und Geißel.
Normalerweise aber nimmt man an, dass ähnlich klingende Wörter
unterschiedlichen Ursprung haben.
-
'einer, der haftet'
Dafür spricht die
doppelte Funktion einer Geisel, die sich in "Haft" befand und mit ihrer
Person für Ansprüche "haftete". Dies scheint mir die
plausibelste Erklärung.
-
ein Lehnwort aus dem Keltischen
Der antike Kriegsbrauch der Geiselnahme (lat.
obsidium) ist deutlich zu unterscheiden vom germanischen
Rechtsinstitut der Leibbürgschaft (Geiselschaft).
Die Kelten haben also nicht unterschieden zwischen
sachlichem "Pfand" und leiblicher "Geiselschaft". Die
keltischen Wörter haben eine starke verbale Komponente ('versprechen,
sich verpflichten, schwören, dienen'), die im Germanischen fehlt. Der
keltische Begriff ist also umfassender und allgemeiner.
Von daher könnte man annehmen, dass das engere germanische Bedeutungsfeld
auf einer Entlehnung aus dem Keltischen beruht. Das ist aber aus den
oben genannten
Gründen wenig
wahrscheinlich.
-
Von den überlieferten Bedeutungen her ist es ganz
unwahrscheinlich, dass Geisel ursprünglich
einen Kriegsgefangenen bezeichnet hat. Das Wort stammt aus dem
Zivilrecht.
-
Genauso unglaubhaft ist die Erklärung Pokornys mit
idg. *ƺʰeidʰ- 'begehren, begierig sein' (>
dt. Geiz, ursprünglich 'Habgier').
Geiselnahme war kein Akt der Habgier, sondern ein legales Verfahren zur
Sicherung berechtigter Ansprüche.
-
Uralische Verwandte:
-
germ. gisla- > urfinn.
*kisla 'Rechtsakt, der durch ein Unterpfand
bekräftigt wird'
-
suomi kihlaus
'Verlobung', kihla-kunnanoikeus
'Gerichtsbezirk'
-
eesti kihlus 'Verlobung',
kihl-vedu 'Wette'
-
liv. kīl 'Pfand, Geisel; verpfänden,
verloben', kīled 'Verlobung',
-
ung. hisz 'glauben',
hit 'Glaube', hitel
'Kredit, Vertrauen'
eine Wortsippe, die keine Parallelen im Uralischen
hat, also wohl entlehnt ist.
Merkwürdig ist, dass die
uralischen Wörter in ihrer Bedeutung stark vom Germanischen abweichen.
Das könnte ein Hinweis sein, dass auch bei den frühen Germanen das
Grundwort wie bei den Kelten eine viel weitere Bedeutung hatte. Da die
Germanen neben gisla- (später 'Leibbürge') auch das konkurrierende
wadj- (später 'dingliches Pfand') hatten, haben sie
den beiden Wörtern speziellere Inhalte gegeben. Das könnte dafür
sprechen, dass gisla- nicht von den Kelten entlehnt, sondern Erbwort
ist. Am wahrscheinlichsten dünkt mir dann die Erklärung als 'einer,
der haftet'.
-
Baltische Verwandte,
offenbar aus einer finnischen Sprache
-
lit. į́-kaitas 'Geisel'
< lit. į́ 'in' + liv.
ka̤iž / ka̤d- 'Hand'
-
lett. ķīlnieku
'Geisel-' (Adjektiv) < liv. kīl
'Pfand, Geisel'
Da die Balten schon in römischer Zeit Nachbarn der Germanen waren, haben
sie die Wörter wohl erst nach der Völkerwanderung und dem Abzug der
Ostgermanen von den Finnen
übernommen.
Synonyme in anderen
Sprachen
-
Lateinisch
obses/ -idis
'Geisel, Bürge, Unterpfand'
-
Griechisch
ὅμηρος
hómēros
'Bürgschaft, Pfand, Geisel, blind'
-
verwandt mit ὁμαρτή
homartḗ 'zusammen', ὁμαρτεῖν
homarteîn 'sich anschließen, begleiten'.
Die
Geisel ist eine Person, die man mitnimmt und die einem auf dem Rückweg
begleitet. Offenbar ist die persönliche Bedeutung ('Geisel') älter als die
dingliche ('Pfand') oder abstrakte ('Bürgschaft').
-
Die Bedeutung 'blind' ergibt sich
wohl daraus, dass ein Blinder einen Begleiter braucht, der ihn führt.
Die Sage, der Dichter Homer sei blind gewesen, beruht auf der Mehrdeutigkeit
seines Namens.
-
Slawisch
-
Russ. заложник
zalóžnik 'Geisel'
-
aslaw. лєжати
ležati, russ.
ложить ložíť 'legen'
Eine Geisel ist also eine Art (-nik) Pfand, ein
Pfand ein Gegenstand, der beim Gläubiger "hinterlegt" wurde.
-
wie russ.: bulg., maked. заложник
zalóžnik 'Geisel'
-
kroat. tạlac,
serb. талац tȁlac, sln.
talec 'Geisel'
-
tschech. rukojmí,
slowak. rukojemník 'Geisel'
-
poln. za-kładnik 'Geisel'
-
Sonstiges
-
alb. peng 'Geisel'
-
iran.
*gir- 'nehmen'
-
pers. گرو
geroû
'Pfand'
گروگام geroû-gân
'wandelndes Pfand, Geisel'
-
kurd. girêw
'Pfand'
girtyar 'Geisel'
-
n'armen.
պատանդ
patand 'Geisel'
-
türk. tutu 'Pfand', tutak
'Geisel'
-
suomi pantti-vanki 'Geisel'
wörtlich
'Pfand-Gefangener' (beides < germ.)
-
bask. bahituri 'Geisel'
< bahi 'Pfand, Hypothek' < wgot.
*waggji, got.
wadi 'Pfand'
Das bask. /b/ ist ein Zwischenlaut zwischen
/b/ und /v/
-
arab. رهتن
rahîn 'abhängig von, gebunden an, Geisel'
-
رهن rahana
'verpfänden, wetten'; rahn 'Pfand, Hypothek,
abhängig von'
رهان rihân 'Wette'
Die Bedeutung 'abhängig, gebunden' ist abgeleitet von der
Bedeutung 'Geisel'.
Die arab. Wortgruppe hat also die
Grundbedeutung 'Mittel der Vertrauensbildung'.
-
hbr. בן התעובות bän ha-taʕarubôt
'Geisel'
eigentlich 'Sohn der Bürgschaften', einer, der Bürgschaft
leisten muss
in 2Kö 14,14; 2Ch 25,25 von Kriegsgefangenen
-
< ערב
ʕárôb 'bürgen, verantwortlich
sein für jem., verpfänden, Tauschhandel treiben',
hitʕáréb 'eine Wette eingehen'
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Schrift:
ARIAL UNICODE MS
Sonderzeichen
Abkürzungen
[1]
Meyers Konversationslexikon 1876 7,536
[2]
Wikipedia
[3]
Adelung
"Geißel" 1
[4] Grimm, Deutsches
Rechtsaltertümer 2,172
[5]
Grimm 5,2608 ff |