Startseite | Religion | Sprachwissenschaft | Geschichte | Humanwissenschaft | Naturwissenschaft | Kulturwissenschaft | Kulturschöpfungen Sprachen | Wörter | Grammatik | Stilistik | Laut und Schrift | Mundart | Sprachvergleich | Namen | Sprachecke |
||||
Heinrich Tischner Fehlheimer Straße 63 64625 Bensheim |
EtymologieVergebungdt. 'Verzeihung' |
Email:
|
||
|
|
|
|
|
I. Was bedeutet traditionell Vergebung? c. auf eine Forderung verzichten d. einen Vorwurf fallen lassen a. Befreiung von einem Vorwurf oder einer Verpflichtung b. Gutmütige Gesinnung, die bereit ist, ein Übel zu ertragen Gemeinsamkeiten der europäischen Begriffe III. Was ergibt sich aus der Analyse des Sprach-gebrauchs? |
I. Was bedeutet traditionell Vergebung?
Ich möchte an dieser Stelle
Vergebung unterscheiden von anderen Arten der Beseitigung eines
Schuldvorwurfs, etwa durch religiöse Riten, durch Ersatzleistungen und
Zufriedenstellung der Geschädigten oder auch durch Anerkennung der Strafe
bzw. Erfüllung der geschuldeten Leistung. Hier muss der Schuldige eine
Leistung vollbringen, damit der Vorwurf von ihm genommen werden kann. 1. verschiedene Sichtweisena. eine Pflicht erlassenEine Schuld ist eine Leistung die jemand zu erbringen hat und eventuell nicht erbringen kann. Wenn ich die Schuld erlasse oder vergebe oder verzeihe [1], schenke ich dem Schuldner das Geld, das er eigentlich zahlen müsste, oder verzichte darauf, dass er die geforderte Leistung erbringt. Den Schaden trage ich dann selbst oder bürde ihn jemand anderem auf. b. Fehler ignorierenEin Fehler ist eine Handlung, die nicht das erwünschte Ergebnis bringt, also falsch war, oder die Unheil anrichtet und übel ist. Wenn ich den Fehler ignoriere, verzichte ich darauf, den Schuldigen zu bestrafen oder für den Schaden haftbar zu machen und muss ebenfalls den Schaden selbst tragen oder einem anderen aufbürden. c. auf eine Forderung verzichten
Durch die nicht bezahlte oder
erlassene Schuld entsteht mir als dem Gläubiger ein materieller Nachteil:
Mir fehlt das Geld, das ich dem Schuldner geliehen hatte. Auch durch einen
Fehler können mir als dem Geschädigten materielle Nachteile entstehen.
Deshalb kann ich nicht nur die nicht erbrachte Leistung "vergeben",
sondern auch den Fehler und damit den Schaden, der mir dadurch entstanden
ist. d. einen Vorwurf fallen lassenSchuld im obigen Sinne ist eine mangelnde, nicht erbrachte Leistung. Sie kann aber auch eine Leistung mit üblen Folgen sein, die dem Täter zum Vorwurf gemacht wird. Man kann den Vorwurf aufrechterhalten und den Täter bestrafen; man kann ihn auch fallen lassen und auf weitere Konsequenzen verzichten. II. Verschiedene Ausdrücke1. deutscha. Ablass
ist Lehnübersetzung von
lateinisch rĕmissio 'Nachlass, Milderung einer Strafe oder
gänzlicher Verzicht darauf' und dīmissio 'Entlassung (z.B. eines
Gefangenen)', beides wiederum Lehnübersetzungen von griechisch ἄφεσις
ápʰesis, im ähnlichen Sinne. b. Vergebung
Der Ausdruck stammt
wahrscheinlich aus der gotischen Kirchensprache. Gotisch
fragiban
bedeutet auch 'jemand etwas zur weiteren Verwendung überlassen, ein Recht
übertragen', passiv 'eine Fähigkeit ("Begabung") haben' und schließlich
'eine Missetat verzeihen'. Den ursprünglichen Sinn dieser Redewendung
erkennen wir heute noch in vergeblich,
vergebens 'umsonst; ohne
Erfolg'. Vergebung wäre also die 'Aufgabe der Schuldforderung oder
der Absicht zu strafen'. c. Verzeihungist der profane Ausdruck an Stelle des religiösen Vergebung: das Gegenteil von zeihen 'anklagen', also 'eine Anklage fallen lassen und auf Konsequenzen verzichten'. Das Wort klingt förmlicher und verbindlicher als das ebenfalls profane Entschuldigung. d. Entschuldigung
Der alte Schulmeisterstreit
ist eigentlich gegenstandslos, ob es heißen muss "Ich entschuldige das
Fehlen meines Kindes" oder "Ich bitte um Entschuldigung für das Fehlen
meines Kindes." Die Eltern nennen die Gründe, weshalb das Kind nicht in
die Schule kommen konnte, und befreien es damit von dem Vorwurf,
geschwänzt zu haben. Aber die Lehrkraft muss die Gründe nicht akzeptieren.
"Das Kind konnte nicht kommen, weil es keine Lust hatte", ist keine
Entschuldigung. 2. LateinischIch untersuche hier nicht den christlichen, sondern den klassischen Sprachgebrauch von 'Vergebung ohne Gegenleistung'. Der lateinische Sprachgebrauch entfaltet sich in zwei Richtungen: 1. rechtlich: 'jemand von einem Vorwurf befreien', 2. im täglichen Leben 'gutmütig sein und sich nicht über Kleinigkeiten ärgern'. a. Befreiung von einem Vorwurf oder einer Verpflichtung
b. Gutmütige Gesinnung, die bereit ist, ein Übel zu ertragen
3. Griechisch
Gemeinsamkeiten der europäischen BegriffeEin wichtiger Aspekt der Verzeihung ist, dass man passiv loslässt oder aktiv vergibt, was man gegen den anderen hat. Das Lateinische betont überraschend oft die gutmütige Gesinnung des Verzeihenden. Im Lateinischen und Griechischen kommt noch der Gesichtspunkt dazu, dass der Verzeihende bereit ist zu vergessen. Die Griechen waren ferner anscheinend der Meinung, dass Verzeihung einer nachträglichen Genehmigung gleich kommt. 4. Hebräischa. Vergebung
סלח
sálôªḥ bedeutet
'vergeben' und wird ausschließlich von Gott gesagt. Die Grundbedeutung des
Wortes scheint '(die Sünde) wegnehmen zu sein.
Im Alten Testament wird
סלח
sálôªḥ gebraucht wie unser vergeben. b. Unheil aufheben
נשא עון náśô
ʕáwôn 'Unheil aufheben':
Als Gott den Brudermörder Kain in die Verbannung schickt, beschwert sich
dieser bei Gott. Luther hat Kains Rede übersetzt mit: "Meine Schuld ist
größer, denn dass sie mir vergeben werden möge." Gemeint ist aber: "Meine
Strafe ist zu groß, als dass ich sie tragen könnte." Also mildert Gott die
Strafe und verhindert, dass Kain in der Verbannung ermordet wird. c. Auf Strafe verzichtenנקה naqqéh 'nicht bestrafen'. Das Hebräische kann das Gegenteil eines Begriffs nicht dadurch zum Ausdruck bringen, dass es das Wort mit einer Vorsilbe verneint wie wir es mit Schuld / Unschuld machen können. Stattdessen steht da ein einfaches Wort, das wir nur mit einer Negation übersetzen können. So ist es auch mit נקה naqqéh 'nicht bestrafen'. Von daher ist es für hebräische Ohren kein Problem, im Deutschen aber eine merkwürdige doppelte Verneinung, wenn es im zweiten Gebot etwa heißt: "Gott wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht" – eine Formel, die auffallend oft vorkommt. Stilistisch besser und sachgemäß richtiger wäre die Übersetzung: "Gott wird dem nicht vergeben..." [3] III. Was ergibt sich aus der Analyse des Sprachgebrauchs?Was wir 'Vergebung' nennen, kann man in den untersuchten Sprachen nach drei Gesichtspunkten betrachten: a. Vom Vergebenden her gesehenVergebung ist ein Akt der Freundlichkeit. Der Geschädigte ist bereit, den Schaden zu tragen und den Frieden mit dem Schuldigen wieder herzustellen. b. Von den Folgen her gesehenDie Schuld hat für den Schuldigen keine Folgen. Er braucht die versäumte Pflicht nicht zu erfüllen und wird nicht bestraft. c. Von der Schuld her gesehenDer Geschädigte hebt den Schuldvorwurf auf, will von der Schuld nichts wissen und vergisst sie. |
Schrift: ARIAL UNICODE MS
[1] Das Wort hat ursprünglich bedeutet 'einen Anspruch aufgeben'; vgl. verzichten. [2] In diesem doppelten Sinne kann man auch Sünde (חט ḥéṭ פשע päšaʕ) נשא náśô 'büßen' oder 'vergeben'. Von daher wird auch der Spruch von Johannes dem Täufer verständlich: "Das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt", d.h. das Gotteslamm Jesus nimmt die Schuld auf sich, trägt die Strafe und entlastet damit die "Welt", welcher damit Vergebung widerfährt. [3] Jesus interpretiert das 2. Gebot tatsächlich so, dass er sagt, die Lästerung des heiligen Geistes könne nicht vergeben werden.
|
||
|
||||
|
Begriffe: Schuld und Sühne | Vergebung (Aufsatz | Wortliste) Sprachecke 11.07.2017 |
|
Datum: 1998 / 2005 Aktuell: 10.02.2019 |